Meine liebste Charlotte,
ich schreibe dir heute am Tag meiner Hochzeit den längst fälligen Brief, den du mehr als jeder andere Mensch auf dieser Welt verdient hast. Es ist nun genau 15 Jahre her, dass du mich verlassen musstest. Natürlich ist dieses Hochzeitsdatum kein Zufall, ich wählte es bewusst um dir diese Ehre zu erweisen. Du hättest ein zauberhaftes langes lila Kleid mit Spitze getragen und dein wunderhübsches Gesicht würde mich nun anlächeln und sagen „Leonard, ich wünsche dir alles Liebe zu deiner Hochzeit, du hast eine tolle Wahl getroffen!“
Doch wo bist du nun, meine liebste Charlotte? Du müsstest hier sein, als der Mensch der mich am besten kennt, dem ich vertraue wie niemandem sonst, der mir alles im Leben bedeutet. Es wäre so vieles anders mit dir, Charlotte. Mein Leben wäre erfüllt, voller Freude und nicht so leer und geprägt von Schuldgefühlen. Charlotte, bitte nimm sie von mir! Ich büße nun mein gesamtes Leben für meine Tat, also flehe ich dich an mich an diesem Tage von dieser Qual zu erlösen.
Ab heute werde ich für immer Buße tragen, für dich meine liebste Charlotte. Sarah, meine Braut, wird dafür Sorge tragen. Sie ist ein Teufelsweib. Herrschsüchtig, egoistisch und gefühllos. Aber sie sieht genauso aus wie du, meine Liebste. Blondes lockiges Haar, zierliche und mädchenhafte Figur und Gesichtszüge und diese wundervollen rehbraunen Augen – nur ohne deine Wärme und Güte in ihnen. Sarah blickt mich so an, wie ich es verdient habe: voller Hass und Abscheu. Genauso wie du mich nun ansehen müsstest. Aber du kannst es nicht mehr und aus diesem Grund erfüllt es mich mit einem ungeheuren Schmerz wenn ich Sarah ansehe, mit einem Schmerz den ich mehr als jeder Andere verdiene. Das ist meine Strafe für das was ich dir angetan habe.
Jahrelang versuchte ich dieses Gefühl zu verdrängen, ich isolierte mich, fühlte mich von allen unverstanden und suchte Trost bei anderen Frauen. Ich ging auch zu Prostituierten. Aber es waren keine gewöhnlichen, sie sahen alle aus wie du Liebes: klein, zierlich und mädchenhaft. Meine Familie stoß mich daraufhin ab, weil sie dachten ich wäre pädophil. Sie verstanden nicht, weshalb ich zu den Mädchen ging. Es war eine Art Ehre für dich, denn sie waren allesamt unerfahren, blutjung und erinnerten mich an dich. Ich wollte mich dir nahe fühlen, geliebt aber gleichzeitig auch bestraft werden für meine Tat. Ich wollte Buße tun, dir zu ehren. Aber alles half nicht, mich diesen schrecklichen Tag vergessen zu lassen. Den Tag, an dem du meine geliebte Charlotte… nein, ich kann es nicht aussprechen. Es schmerzt so. Aber dieses Gefühl zu spüren habe ich verdient. Nur du – du solltest etwas anderes spüren müssen und ich hoffe das wirst du. Ich werde Sarah so behandeln, wie du es verdient hast. Dennoch wird sie mich voller Verachtung ansehen und es als selbstverständlich betrachten. Du siehst, ich habe für alles Sorge getragen, für dich und für mich. Ich lese jeden Abend deine Romane. Alle Klassiker aus der deutschen Literaturgeschichte die du so sehr liebtest. Ebenso wie du früher, hole ich sie mir noch heute aus den Altbeständen der Bibliothek. Diese Möglichkeit habe ich dir genommen und es tut mir unendlich leid. Ich bin gezeichnet von diesem einen Tag der unsere beiden Leben von Grund auf veränderte. Mein Spiegelbild weist mich jeden Tag aufs Neue auf meine Tat hin. Narben zeichnen mein Gesicht und jede Einzelne zeigt den Schmerz, den du fühlen musstest, meine geliebte Charlotte.
Jenen Tag werde ich niemals vergessen, deinen entsetzen Blick als du erkanntest, dass ich dich nicht retten werde, dein quälender Schrei als die Flammen sich durch den Stoff deiner Kleider bohrten. Es war der Tag, an dem wir uns zum ersten Mal stritten, ein erstes Mal anschrieen und unsäglich wütend aufeinander waren. Du wolltest weggehen, Charlotte. Aber das konnte ich nicht zulassen. Nicht du solltest die Entscheidung treffen, dass wir ein Leben ohneeinander führen werden. Nicht du! Ich musste es verhindern. Als du kurz hinaus gingst, goss ich etwas Wodka aus meinem Geheimvorrat auf den Boden unserer Scheune. Wir schworen uns genau an diesem Ort für immer aufeinander aufzupassen, für den anderen da zu sein – aber du wolltest mich verlassen, wegziehen, die Schule wechseln. Es hätte nur noch 1 Jahr gedauert bis ich mein Abitur bestanden hätte, dann wäre ich mitgekommen, aber du wolltest das alleine ohne mich durchziehen. Du wolltest mich verlassen. Ich war zu stolz um es dir auszureden, also blieb mir keine andere Wahl.
Ich liebte dich wie eine Schwester. Du warst noch ein Kind, Charlotte. Ich hoffe du verstehst nun, weshalb ich dies tun musste und weshalb du an diesem Tag, an diesem Ort sterben musstest.
In Liebe,
dein Leonard
Titelbild: ericaa1215 (Pixabay)
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