„Ich möchte diesen Sommer noch einmal richtig genießen, bevor ich im nächsten Jahr mein Examen mache und ins praktische Jahr übergehe. Deshalb möchte ich alles ausprobieren, was ich schon immer mal wollte, bevor es dann nicht mehr geht.“
Und das tut sie tatsächlich. Einen Termin mit Kristin zu finden, an dem sie noch nicht verplant ist, ist gar nicht so einfach. Spieleabende, Sportkurse, Kurztrips, Family-Besuche – Kristin hat immer etwas vor. Ich beneide sie ein wenig.
„Mach das doch auch“, sagt sie in meine Gedanken hinein, als sie sieht, dass ich zögerlich bin.
„Ich weiß nicht, irgendwie bin ich nicht so der Typ dafür, mich ständig mit neuen Dingen oder Menschen zu konfrontieren.“
Ich fühle mich hin- und hergerissen. Einerseits beneidete ich Kristin dafür, dass sie ständig auf Achse ist, jeden Tag eine andere Verabredung hat und neue Dinge ausprobiert. Andererseits bin ich eher der Typ für echte und enge Verbindungen, für Kontinuität und Stabilität.
Ich probiere sehr gerne neue Dinge aus, so ist das nicht. Nicht ohne Grund führen wir das Gespräch nach unserem gemeinsamen Sportkurs, den ich mit ihr belegt habe. Aber sie betreibt das Ausprobieren in einem Tempo, dass ich kaum mehr mitkomme. Ich glaube, dieses Tempo beeindruckt mich etwas. Oder schüchtert es mich ein? Wir leben in einer so schnelllebigen Zeit, dass mich dieses Tempo nicht mehr wundern sollte. Aber es ist nicht mein Tempo.
Ich absolviere gerade den Sportkurs mit ihr, dieser ist einmal wöchentlich und geht maximal 10 Wochen. Danach probiere ich gerne einen neuen Kurs aus. Aber wieso sollte ich dies parallel tun?
Wenn wir uns immer mehr und immer mehr aufhalsen, wo bleibt dann noch die Zeit
zum Verarbeiten, Innehalten und Genießen?
Ebenso ist es mit neuen Bekanntschaften. Jede Woche einen neuen Menschen kennenzulernen, überfordert mich. Wenn ich eine Person treffe und mich mit dieser gut verstehe, dann möchte ich sie besser kennenlernen. Ich höre zu und merke mir, was er/sie erzählt.
Habe ich innerhalb weniger Tage mehrere Verabredungen hintereinander, fällt es mir schwer, mir alles zu merken. Ich komme durcheinander. „Habe ich ihr das bereits erzählt?“ „War sie nicht am Wochenende verreist? Oder war das jemand anderes?“ Ich mag diese Gedanken nicht. Ich bin gerne eine aufmerksame und emphatische Freundin, die nach dem Wochenende fragt „Na, wie war deine Reise nach XY?“ Und nicht erst überlegen muss, welche Freundin das war, die das Wochenende verreist ist. Ich erzähle auch nicht gerne Dinge doppelt. Ich hasse es, mich zu wiederholen. Das ist mein Anspruch an mich als eine enge Freundin. Deshalb: Ja, neue Bekanntschaften sind toll. Sie bereichern den Alltag und es treten im Idealfall neue Wegbegleiter in mein Leben. Aber ich halte es auch bei Freundschaften gerne wie beim Dating: Eingleisig fahren und das neue Gegenüber besser kennenlernen.
Auch beim Gitarre spielen ist es für die neuronalen Verknüpfungen im Gehirn besser, nur ein neues Lied gleichzeitig zu lernen. Zum Perfektionieren und immer wieder Spielen können es gerne mehrere sein.
„Synaptisches Lernen“ in der Großhirnrinde ist langsam und lebt von der Wiederholung. Dabei kommt es nicht auf die absolute Zeitdauer an. "Häufiger, aber kürzer üben" lautet der Rat, der sich mit etwas Vorsicht ableiten lässt.
Diese ganze Schnelllebigkeit kommt primär aufgrund der unendlich vielen Möglichkeiten, die wir mittlerweile besitzen. Gerade der Sommer bietet mehr Zeit, um neue Dinge auszuprobieren. Es ist früher und länger hell, die hohen Temperaturen und die Sonne sorgen automatisch für bessere Laune und es gibt Veranstaltungen ohne Ende. Gerade nach Zeiten des Lockdowns sind die Menschen umso erpichter darauf, die vermeintlich verpasste Zeit nachzuholen.
Aber ist das der Sinn des Lebens? Sollten wir unsere Zeit damit verbringen, von der einen Verabredung zur nächsten zu hetzen, mehrere neue Dinge gleichzeitig zu lernen und immer weniger Zeit mit uns selbst zu verbringen?
Wie bei allem im Leben ist hier sicher der goldene Mittelweg am besten. Und auch dieser sieht für jeden Menschen anders aus. Allein Introvertierte und Extravertierte haben ein unterschiedliches Bedürfnis nach Unternehmungen und dem Input anderer Menschen. Hier sollte wohl jeder für sich selbst die richtige Mischung finden.
Wichtig ist, oft genug einmal innezuhalten und zu reflektieren: Ist es zu viel? Habe ich noch Zeit, zu genießen und die Momente wirklich zu leben?
Die Freundschaft zu Kristin ist am Ende schneller vergangen als sie überhaupt gestartet ist. Wieso? Weil wir nicht zueinander gepasst haben. Ich merkte immer mehr, wie sie mir nicht richtig zuhörte. Wie sie versuchte, mir ihre Meinung aufzudrücken, obwohl sie meine noch gar nicht richtig kannte. Es endete, indem sie sich nicht mehr meldete und ich damit okay war.
Was ich mitnehme ist definitiv diese Spontanität, die sie an den Tag legte. Das Ausprobieren neuer Dinge. Was ich aber niemals adaptieren werden, ist die Oberflächlichkeit, die sie in ihren Bekanntschaften beibehalten wollte. Ich genieße lieber die Gesellschaft echter Freundschaften, die Tiefe haben, Mehrwert bieten, man die Meinung der anderen Person akzeptiert und respektiert und in denen man nicht einfach durch ein neues Bumble-Friends-Match ausgetauscht wird.
Schreibe einen Kommentar